Die Macht der Verknüpfung von Essen+Gefühlen

Mitunter kann es sehr wichtig und zielführend sein, mit den Gefühlen zu arbeiten, die mit dem Essen zusammenhängen. Hierzu zählt zunächst das Aufdecken und Bewusstwerden bestimmter Zusammenhänge. Im zweiten Schritt geht es dann um die Umformung/Auflösung dieser Verknüpfungen durch Neuzuweisen an andere positive Reize.

 

Zum Einstieg in das Thema hilft die folgende Frage, die sich jeder ehrlich beantworten sollte: Welche (psychische) Funktion/Nutzen hat Essen für mich?

 

Das können z. B. sein:

v  reine physiologische Triebbefriedigung („Hunger stillen“, weil der Körper das jetzt sagt?)

v  Appetit, Lust

v  Langeweile

v  Selbstberuhigung

v  Entspannung

v  Bestätigung

v  (Selbst-) Ablenkung

v  Zerstreuung

v  Ersatz für (Mutter-) Liebe

v 

 

Diese weitergehenden Funktionen, die Essen (mehr oder weniger bewusst) nach und nach ausgefüllt und eingenommen hat, müssen wieder mehr durch eigentlichen psychischen Bereiche eingenommen und ausgefüllt werden. Diese Bereiche sind: Wie kann ich mich unter Stresssituationen selbst beruhigen? Wie kann ich Entspannung finden? Wo und wie kann ich mir Bestätigung meiner selbst einholen? (Ich bin ein liebenswerter Mensch.) Wie kann ich mich ablenken, wenn ein Tag mal nicht so gut gelaufen ist? Wie und wo finde ich Zerstreuung, um mal aus dem Alltagstrott herauszukommen? Wie gelingt es mir, unbewältigte Themen (z. B. in der Beziehung zum eigenen Vater oder zur Mutter) zu klären und diese Belastung aufzulösen?

Gelingt dies nicht – und hat Essen weiterhin diese Substitutsfunktion – hat Abnehmen NIE, NIE, NIE eine Chance.

 

Ich will dies an dem Fallbeispiel eines Klienten verdeutlichen, der eine „schwere“ Kindheit hatte durch eine Mutter, die sich emotional nicht so um ihn kümmern konnte, wie das vielleicht gut gewesen wäre für ihn. Die emotionale Zuwendung lief über Essen. Er erinnert sich an seinen Ausruf als Kind an seine Mutter: „Du lässt mich verhungern!“

Bewusst bezog er das in diesem Moment auf die Gabe von Essen.

Unbewusst war es jedoch der Wunsch und die Aufforderung nach (mehr) emotionaler Zuwendung, die er ja von seiner Mutter nicht (genug) bekam. Wenn diese (wenige) emotionale Zuwendung hauptsächlich über das Essengeben (als Befriedigung physiologischer Bedürfnisse) läuft, wird „Mama-Liebe“ mit „Essen“ untrennbar verknüpft. Will der Kleine mehr Zuwendung, schreit er nach Essen. Essen bekommt also eine Substitutsfunktion (siehe oben).

Im Erwachsenen-Alter hat dieser Klient die Angewohnheit, sich nur gut zu fühlen, wenn er sich beim Essen richtig vollstopft, bis hin zu Binge-Eating-Anfällen.

Menschen in einer derartigen Lage ist nicht geholfen, indem man sie mit ein paar Diät-Tipps abspeist à la: er solle einfach ein bisschen weniger essen!

Ein Patient in dieser Lage muss lernen, Zuwendung und positive Emotionen auf anderem Wege „einzufahren“ (auf sein Glücks- und Wohlfühl-Konto). Gelingt diese Erkenntnis und vor allem die anschließende Umsetzung, dann reduzieren sich seine Heißhunger-Attacken von allein – weil er fehlende Befriedigung in anderen Lebensbereichen nicht mit Essen kompensieren muss. Durch systemische Aufstellungsarbeit ist es auch möglich, diesen Mangel zu beheben, indem ihm die liebende Mutter, die er so nie hatte (oder so gesehen hat), gegeben wird. Ist dieser Druck von ihm genommen, egalisiert sich auch sein Essverhalten – weil die fehlende Liebe nicht mehr mit Essen kompensiert werden muss. Denn jetzt ist sie ja da in seinem (Unter-) Bewusstsein.

 

Ein User schrieb mich an: „Dann müsste ja jeder so eine Störung haben! Auch für mich ist Essen immer Zuwendung. Ich finde es auch heute als Erwachsener toll, bei meiner Mutter zu sein und ihr Selbstgekochtes zu essen!“

 

Claus Unger: Das ist schön und freut mich für Dich! ;-) Klar – „bei Mutti schmeckt’s immer noch am besten“ trifft auf viele von uns zu! Der Unterschied wird bei Dir aber gewesen sein, dass die emotionale Zuwendung Deiner Mutter nicht ausschließlich oder hauptsächlich über das Essen lief und beides untrennbar gekoppelt wurde, es also NUR emotionale Zuwendung gab, wenn es Essen gab. Je mehr das aber der Fall (wie im Beispiel) ist, umso höher ist das Risiko, sich über eine übermäßige Zufuhr von Essen bei emotionalen Tiefs selbst helfen zu wollen. Kurzfristig gibt es dann natürlich psychische Entspannung, langfristig jedoch nicht (und der Körper leidet ebenso wie die Psyche mit den sichtbaren Anzeichen).

 

Unvergessen ist für mich auch jenes Bild, dass ich in einem Einkaufscenter erlebte und sich mir einbrannte: Zwei dicke Eltern mit ihren im Einkaufswagen gehorteten Einkäufen fahren auf dem rolltreppenähnlichen Transportband auf die Ebene zum Parkdeck hoch. Hungrig wie sie sind, fallen sie sogleich über ihre Beute her (sprich, was der Einkaufswagen hergibt), reißen die Packungen auf und probieren suchtartig alles sofort. Ihre Tochter, zwar erst ca. 6 Jahre alt, wohl aber schwerer als so manche 18-Jährige, steht ebenfalls dabei. Sie beobachtet durch die Glaswände der Rolltreppe das muntere Treiben in dem Einkaufscenter (von oben ließ es sich ja gut gucken). Ungefragt schoben ihr die Eltern von oben Würstchen und allerlei Kram in den Mund. Ihre Aufmerksamkeit war auf ihre Umgebung gerichtet. Völlig unmotiviert und komplett automatisiert öffnete sie jedes mal brav ihren Mund, sobald ihr etwas zu Essen gegen die Lippen gepresst wurde. Ich war so schockiert.
Ist das nun Zuwendung? Leider nein. Zuwendung heißt, bei dem Kind zu sein in dieser Situation. Neben ihm zu stehen, mit ihm in Kontakt zu sein durch Sprechen. Darüber reden, was das Kind sieht, welche Beobachtungen es macht. Was es spannend findet. Auf Fragen einzugehen, die es vielleicht hat, um die Welt um sich herum zu verstehen. Aber nein. Die Eltern waren nicht da für das Kind. Sie waren nicht mit dem Kind. Sie waren mit ihrem eigenen Fressen beschäftigt. Ihr Kontakt, ihre Zuwendung bestand in nichts anderem, außer dass ohne jegliche Kommunikation (ohne Worte, Augen-Kontakt o.ä.) einfach was in das Kind hinein geschoben wurde. Das Kind spürte die Anwesenheit seiner Eltern einzig und allein dadurch, dass ihm Essen in den Schlund geschoben wurde. Was wird denn dieses Kind als Erwachsene tun, wenn sie sich alleine und traurig fühlt???